Schwarzer Holunder – Schutzbaum, Heilpflanze, Frau Holles Baum
- Carmen Heller
- vor 3 Tagen
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Altes Wissen neu entdeckt
Er steht am Rand alter Gärten, wächst an Waldrändern, vor Höfen und in der Nähe von Quellen: der Schwarze Holunder (Sambucus nigra). Im Herbst hängen seine Äste schwer von glänzenden, tiefvioletten Beeren – ein Bild wie aus einem alten Märchen. Doch der Schwarze Holunder ist weit mehr als eine hübsche Wildpflanze. Seit Jahrhunderten gilt er als heilkräftig, schützend und geheimnisvoll.

Schwarzer Holunder - ein Heckenstrauch mit Geschichte
Der Schwarze Holunder gehört zu den ältesten Kulturpflanzen Mitteleuropas. Schon in der Bronzezeit nutzten ihn Menschen – nicht nur wegen seiner Beeren und Blüten, sondern auch wegen seines Holzes und seiner spirituellen Bedeutung. In fast jedem Bauernhofgarten war früher ein Holunderbusch zu finden. Doch nicht aus Zufall – man pflanzte ihn nicht, er „stand schon da“, hieß es oft. Denn den Holunder einfach zu fällen oder zu versetzen galt als gefährlich. Man glaubte: In ihm wohnt ein Geist. Eine Göttin. Eine Ahnherrin.
Auch in den ländlichen Regionen Mittelkärntens war der Holunder über viele Generationen hinweg selbstverständlicher Bestandteil der bäuerlichen Welt – sei es in den Gärten um Friesach oder bei den Höfen rund um Althofen. Oft wuchs er neben der Haustür, nahe beim Brunnen oder an der Stallmauer – nicht nur, weil er nützlich war, sondern weil man sich von ihm Schutz und Segen erhoffte.
„Der Holler is bei uns beim Stoll’n gwachsn. Mei Oma hat g’sagt: Den rührst nit on ohne a Wort. Erst fragen, dann schneiden.“
Frau G., Jahrgang 1941, aus dem Raum Gurktal
Frau Holle wohnt im Holunder
In der Volksüberlieferung wird der Holunder oft mit der Gestalt der Frau Holle in Verbindung gebracht – jener geheimnisvollen Frauengestalt, die im Märchen die Welt ordnet und über Leben und Tod wacht. Sie steht einer uralten Gottheit nahe, die einst als Herrin der Pflanzen, Seelen und Jahreszeiten verehrt wurde.
Der Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl beschreibt den Holunder als „Heilbaum der alten Mutter“ – eine Pflanze, die den Übergang zwischen Diesseits und Jenseits bewacht und deshalb an Schwellen gepflanzt wurde: vor Türen, neben Ställen, am Ortsrand oder bei Quellen.
Wer sich dem Holunder mit Respekt näherte, konnte Schutz, Heilung und Trost finden. Wer ihn hingegen missachtete, riskierte Krankheit, Unheil oder Unruhe.
Noch bis ins 20. Jahrhundert war es vielerorts Brauch, den Holunder mit einem kleinen Knicks zu grüßen, wenn man an ihm vorbeiging – besonders bei Sonnenauf- oder -untergang. Man bat um Erlaubnis, bevor man Blüten oder Beeren pflückte: „Frau Holle, Frau Holle, gib mir von deinem Holz, ich will dir auch kein Leid tun.“

Heilkraft aus Blüten und Beeren
Die Heilwirkung des Holunders ist heute gut erforscht – und sie gibt der Volksmedizin recht:
Die weißen Blüten, die im Frühsommer duften, wirken schweißtreibend, fiebersenkend und schleimlösend. Als Tee helfen sie bei Erkältungen, Husten und grippalen Infekten.
Die dunklen Beeren, die im Herbst reifen, enthalten viele Antioxidantien, Vitamin C und Flavonoide. Gekocht als Saft, Mus oder Sirup stärken sie das Immunsystem und wirken entzündungshemmend.
Roh sollten die Beeren des Schwarzen Holunders nicht gegessen werden – sie enthalten Sambunigrin, einen schwach giftigen Stoff, der erst durch Erhitzen unschädlich wird.
In Kärnten ist es bis heute vielerorts üblich, Holunderblütensirup, Beerenmus oder Hollersaft selbst herzustellen – nicht nur als wohlschmeckenden Vorrat für den Winter, sondern auch als altbewährtes Hausmittel bei Erkältung, Fieber oder allgemeiner Schwäche. Besonders in ländlichen Gegenden wird dieses überlieferte Wissen noch gelebt und weitergegeben – oft von Generation zu Generation.
Auch in meiner eigenen Familie ist der Schwarze Holunder fester Bestandteil des Alltags. Ich erinnere mich, wie meine Großmutter im Spätsommer die schweren Beerendolden in einen Korb legte, um daraus einen tiefroten Saft zu kochen. Heute pflücke ich selbst gern Holunderblüten für Sirup oder verarbeite die Beeren im Herbst zu einem kräftigen Immunsirup.

Magisches Wissen für den Alltag
Der Holunder ist nicht nur Heilpflanze – er war auch ein Baum der Schwellen: Man pflanzte ihn an Haus- und Stallwände, um vor Blitzen, Krankheiten und „bösen Geistern“ zu schützen. Ein Holunderzweig am Fensterrahmen galt als Schutz gegen Albträume. Und im Stall vertrieb er das Viehleid.
Auch in der Bestattungskultur spielte er eine Rolle: Man streute Holunderblätter in den Sarg oder legte einen Zweig unter das Kopfkissen Verstorbener – als Wegweiser ins Jenseits.
Storl schreibt: Der Holunder stehe am Übergang, „wo die Alten wohnen“ – und mache die Verbindung zu unseren Ahninnen spürbar.
Altes Wissen für neue Zeiten
Heute erlebt der Schwarze Holunder eine Renaissance: In der Naturheilkunde, in der Wildkräuterküche und im achtsamen Leben mit dem Jahreskreis. Er erinnert uns an eine Zeit, in der Pflanzen mehr waren als bloße Kulisse. Sie waren Vertraute, Verbündete, Wesen mit eigener Würde.
Wer im Herbst Holunder erntet, kann ein wenig von dieser alten Verbindung spüren. Vielleicht nimmst du dir einen Moment Zeit, bevor du pflückst – und sprichst still ein Dankeschön.
🌿 Rezept: Holundersirup gegen Erkältung:
Holundersirup gegen Erkältung
– 1 kg reife Holunderbeeren (gegart)
– 500 ml Wasser
– 500 g Zucker
– 1 Bio-Zitrone
Alles langsam köcheln lassen, abseihen und heiß in saubere Flaschen füllen. Kühl und dunkel gelagert hält der Sirup mehrere Monate. Bei Erkältung 1–2 EL in heißem Wasser trinken.
📚 Quellen & Literatur:
– Marcel Robischon: Bäume in Mythos und Geschichte. Hirzel Verlag, 2016.
– Marianne Riedl: Alte Hausmittel und Heilwissen aus dem Volksbrauchtum. Freya Verlag, 2022.
– M. Pahlow: Das große Buch der Heilpflanzen. BLV Verlag, diverse Auflagen.
– Wolf-Dieter Storl: Pflanzen der Kelten – Heilkräuter und Zauberpflanzen unserer Vorfahren. Kailash Verlag, 2000.
– Erika Timm: Frau Holle, Frau Percht und verwandte Gestalten. Reichert Verlag, 2003.
Dieser Beitrag wurde unter Einbeziehung überlieferter Volksbräuche, kulturhistorischer Quellen und moderner Pflanzenkunde verfasst – und verweist zugleich auf das reiche regionale Wissen in Mittelkärnten, wo der Holunder über Generationen hinweg Teil des gelebten Alltags war.
✍🏼 Über die Autorin:
Carmen Heller ist Kulturvermittlerin, Stadtführerin und Gründerin von Wortkultur. Ihr besonderes Interesse gilt der Kulturgeschichte, dem Alltagswissen und dem überlieferten Brauchtum vergangener Zeiten. Mit viel Gespür für Sprache und Atmosphäre verbindet sie historische Fakten mit persönlichen Begegnungen. Sie spricht gern mit Menschen über deren Erinnerungen, hört alten Leuten zu, wenn sie von „früher“ erzählen – und pflückt im Mai Holunderblüten, wie schon ihre Großmutter.
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