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Dark Tourism: Warum wir Orte aufsuchen, die uns erschüttern

  • Autorenbild: Carmen Heller
    Carmen Heller
  • 10. Aug.
  • 5 Min. Lesezeit

Von den Anden bis Kärnten – eine Einführung in Orte des Gedenkens und des Schreckens



Inhalt





Mina Santa Bárbara in Peru – ein Ort mit schwerer Vergangenheit



Der Weg hinauf zur Mina Santa Bárbara, einem verlassenen Bergwerk hoch oben in den peruanischen Anden, führt durch eine karge Landschaft. Auf über 4000 Metern ist die Luft dünn, jeder Atemzug fällt schwer. Überall in den Gebäuden der alten Industrieanlage liegt eine feine Staubschicht, als hätte sich die Zeit selbst abgesetzt. In den Hallen stehen schwere Maschinen, rostige Trichter und große Drehrohre. Sie schweigen, aber sie tragen Spuren vergangener Arbeit. Wenn der Wind durch zerbrochene Fenster streicht, klappern lose Bleche und ein metallisches Pfeifen hallt durch die Räume. Schon beim Eintreten spürt man, dass hier etwas geschehen ist, und dass diese Geschichte nicht unbeschwert ist.


Warnschild mit der Aufschrift „Peligro No Entrar“ („Betreten verboten“) an der Mina Santa Bárbara, auch „Mina de la Muerte“ genannt, in Peru – ehemalige Quecksilbermine mit giftigen Gasen.
Rostiges Warnschild mit der Aufschrift „Peligro No Entrar“ („Betreten verboten“) am Eingang der Mina Santa Bárbara in Peru. (Foto: Carmen Heller)
Rostige Drehrohre in einer verlassenen Industrieanlage der Quecksilbermine Santa Bárbara in Peru.
Verrostende Drehrohre in der Industrieanlage in Santa Bárbara – Peru (Foto: Carmen Heller)

Die Einheimischen nennen sie Mina de la Muerte – Mine des Todes. Hier wurde über Generationen gearbeitet, gehofft und gestorben. Die Mine war Teil eines kolonialen Wirtschaftssystems unter spanischer Herrschaft in Peru, das auf Ausbeutung beruhte. Die Menschen, die hier schufteten, bezahlten mit ihrer Gesundheit und oft mit ihrem Leben. Heute schweigen die Maschinen, doch ihre Präsenz erzählt von einer Vergangenheit, die nicht vergeht. Orte wie dieser sind nicht nur Relikte. Sie gehören zu einer Kategorie von Reisezielen, die man als ‚Dark Tourism’ bezeichnet.





Was Dark Tourism bedeutet – von Tschernobyl bis Kärnten



Der Begriff ‚Dark Tourism’ wurde Ende der 1990er Jahre von den britischen Forschern John Lennon und Malcolm Foley geprägt. Er beschreibt das bewusste Aufsuchen von Orten, die mit Leid, Tod oder Katastrophen verbunden sind. Das Phänomen selbst ist jedoch sehr viel älter. Schon im Mittelalter pilgerten Menschen zu Hinrichtungsplätzen, besuchten Schlachtfelder oder strömten zu Orten großer Unglücke.


„Dunkle Orte erinnern daran, wie zerbrechlich das Leben und wie tief die Narben der Vergangenheit sind.“

Verlassenes Hotel Polissya in Pripyat, Ukraine – berühmter Lost Place in der Sperrzone von Tschernobyl.
Verlassenes Hotel Polissya in Pripyat, Ukraine, ein Symbol der Tschernobyl-Katastrophe (Foto - bearbeitet: Viktor Hesse / Unsplash)
Gedenkstätte Auschwitz, Blick entlang des Stacheldrahtzauns zwischen Backsteingebäuden des ehemaligen Konzentrationslagers in Polen.
Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (Foto: Severinus Dewantara / Unsplash)

Nicht jeder verlassene Ort fällt automatisch in diese Kategorie. Entscheidend ist die Verbindung zu historischen Ereignissen, die im kollektiven oder lokalen Gedächtnis Spuren hinterlassen haben. Gedenkstätten wie Hiroshima in Japan, Tschernobyl in der Ukraine oder das ehemalige KZ Auschwitz sind klar dem Erinnern verpflichtet. Andere Orte – etwa verlassene Industrieanlagen – bewegen sich im Grenzbereich. Sie erzählen von Aufstieg und Niedergang, von Arbeit und Fortschritt, oft aber auch von Gefahr und Tod.





Zwischen Neugier, Gedenken und Voyeurismus



Warum zieht es Menschen an solche Orte? Manche suchen Authentizität, den direkten Kontakt zu einem Stück Geschichte. Andere wollen das Unheimliche erleben, die besondere Spannung eines Orts, an dem etwas geschehen ist, das nicht ungeschehen gemacht werden kann.


„For as long as humans have travelled for leisure, they have travelled to watch death, to view cadavers and relics.” (Tony Johnston)

Doch diese Faszination hat zwei Seiten. Sie kann Teil einer reflektierten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sein oder in bloße Sensationslust kippen. Die Grenze ist oft schmal. Wer ohne Kontext oder Respekt unterwegs ist, nimmt den Ort als Kulisse wahr und blendet die Schicksale aus, die sich hier abgespielt haben. Das gilt ebenso für internationale Beispiele wie Tschernobyl oder Hiroshima wie für regionale Dark-Tourism-Orte in Kärnten und im Alpen-Adria-Raum.





Erinnern als aktive Handlung –

Memoria und historische Gedenkorte



In der europäischen Tradition meint memoria nicht nur das Festhalten von Erinnerungen, sondern deren bewusste Pflege. Sie lebt vom Erzählen, vom Weitergeben, vom Verstehen der Zusammenhänge. Dark Tourism kann diese Aufgabe erfüllen, wenn er mehr bietet als den ästhetischen Reiz des Verfalls. Er kann Geschichten ans Licht bringen, die sonst verloren gingen.


Kühles Neonlicht beleuchtet die feuchte Betondecke und schafft eine beklemmende Atmosphäre. (Foto: Tomáš Novák / Pixabay)
Kühles Neonlicht beleuchtet die feuchte Betondecke und schafft eine beklemmende Atmosphäre. (Foto: Tomáš Novák / Pixabay)

Orte wie die Mina Santa Bárbara in Peru sind dafür prädestiniert. Doch auch in Kärnten und im gesamten Alpen-Adria-Raum finden sich Schauplätze, die in den Bereich des Dark Tourism fallen: alte Hinrichtungsplätze, Pestfriedhöfe, Massengräber aus Kriegszeiten, das KZ-Außenlager Loibl-Nord und Loibl-Süd an der Passstraße zwischen Kärnten und Slowenien oder Festungsanlagen aus dem Ersten Weltkrieg im Kanaltal und entlang des Isonzo. Auch inszenierte Orte wie Foltermuseen in Burgen ziehen Besucher an, die sich für das Dunkle und Morbide interessieren. Naturkatastrophen können ebenfalls Spuren hinterlassen, die zu Orten des Gedenkens werden – wie im Friaul, wo das schwere Erdbeben von 1976 ganze Dörfer zerstörte und einzelne Ruinen bis heute als Mahnmale stehen. Viele dieser Orte sind zugleich Stätten der memoria. Sie erinnern nicht nur an Gewalt, Tod oder Verlust, sondern sind auch Räume, in denen das Gedenken bewusst gepflegt wird.





Mehr als ein Fotomotiv – Dark Tourism bewusst erleben



Wer sich auf einen solchen Ort einlässt, begegnet nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Frage, wie wir mit ihr umgehen. Sehen wir nur die eindrucksvollen Bilder oder erkennen wir die Geschichte dahinter?


Dark Tourism ist kein makabrer Zeitvertreib, wenn er bewusst betrieben wird. Er kann ein Zugang sein, Geschichte erfahrbar zu machen, ihre Komplexität zu sehen und den Menschen dahinter Raum zu geben. Die vermauerten Stollen der Mina Santa Bárbara sind nicht nur ein Relikt. Sie sind ein Stück Erinnerung, das uns auffordert, hinzusehen und zu begreifen.





Literaturhinweise



  • Buda, Dorina M. (2015): Affective Tourism: Dark Routes in Conflict. London: Routledge.

  • Der Standard (2018): Dark Tourism – Was Menschen an düstere Orte zieht.

  • Lennon, John / Foley, Malcolm (2000): Dark Tourism: The Attraction of Death and Disaster. London: Continuum.

  • Lux, Georg / Weichselbraun, Helmut (2018): Verlassene Orte in Kärnten. Erfurt: Sutton Verlag.

  • Lux, Georg / Weichselbraun, Helmut (2019): Verlassene Orte in der Steiermark. Erfurt: Sutton Verlag.

  • Reimann, Julia / Schmude, Jürgen (Hrsg.) (2020): Dunkler Tourismus: Theorie, Praxis, Perspektiven. München: De Gruyter Oldenbourg.

  • Stone, Philip R. / Sharpley, Richard (2009): The Darker Side of Travel: The Theory and Practice of Dark Tourism. Bristol: Channel View Publications.

  • Zettl, Alexander (2016): Tschernobyl – Von der Katastrophe zum Dark Tourism. Wien: Böhlau.






Über die Autorin



Ich bin Carmen Heller, Kulturvermittlerin und Gründerin von Wortkultur. Geschichte ist meine Leidenschaft – nicht nur in Museen oder Archiven, sondern vor allem dort, wo sie sich in den Raum eingeschrieben hat. Ich habe Geschichte und Germanistik studiert, unzählige Führungen entwickelt und bin immer auf der Suche nach neuen Perspektiven, um historische Themen erlebbar zu machen. Dark Tourism interessiert mich, weil er uns zwingt, genauer hinzusehen: an Orte, die unbequem sind, die Geschichten erzählen, die nicht ins Postkartenbild passen. Mit meinen Recherchen möchte ich nicht nur informieren, sondern auch dazu anregen, mit Respekt und Neugier an diese besonderen Schauplätze heranzugehen.

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Über mich

Ich bin die Inhaberin des Unternehmens und der Website Wortkultur. Als Expertin für Kultur und Bildung stehe ich Ihnen für die Erstellungen von Texten und Konzepten zu Verfügung. Meine Schwerpunkte sind Content Marketing und Kulturvermittlung. Auf meiner Website gibt es auch einen Blog, auf dem ich regelmäßig Fachartikel und Aktuelles aus der Branche veröffentliche.

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